Interview mit Magdolna Kremmer - Young European of the Year 2025
Magdolna Kremmer setzt sich in Ungarn für benachteiligte Kinder und Jugendliche ein. Für ihren herausragenden Beitrag zu mehr Bildungsgerechtigkeit hat die Stiftung sie jetzt als Young European of the Year 2025 ausgezeichnet. Im Interview spricht sie über den Preis, ihr Engagement, strukturelle Herausforderungen - und warum eine kleine Geste manchmal alles verändert.

Herzlichen Glückwunsch zur Auszeichnung, liebe Magdolna! Könntest du dich unseren Leser*innen kurz vorstellen und erzählen, was dich motiviert, für ein gerechteres und inklusiveres Europa zu arbeiten?
„Wo wir geboren werden, liegt nicht in unserer Hand – aber was wir mit unserem Privileg anfangen, schon.“
Mein Name ist Magdolna Kremmer, ich bin 25 Jahre alt und komme aus Ungarn. Seit über sechs Jahren arbeite ich in der Piliscsabai Tanoda, einer außerschulischen Einrichtung für benachteiligte, überwiegend Roma-Kinder. Wir nutzen non-formale Bildungskonzepte, um einen sicheren Raum zu schaffen, in dem Kinder sie selbst sein können, Fragen stellen, lernen und auch Fehler machen dürfen – ohne bewertet zu werden. Ich habe Community Coordination mit Schwerpunkt Jugendarbeit studiert und anschließend einen Master in Sozialpolitik gemacht, um das System hinter meiner Arbeit besser zu verstehen. Aufgrund fehlender Ressourcen haben zwei Kolleg*innen und ich die Seedling Community Foundation gegründet, um die Tanoda zu unterstützen und unsere Arbeit auszuweiten. Parallel dazu habe ich mich in Gemeinschaftsprojekten engagiert, als freie Journalistin über soziale Themen geschrieben und mit verschiedenen Bildungsformaten gearbeitet. Ich glaube, dass wir zwar nicht wählen können, wo wir geboren werden, aber sehr wohl entscheiden können, wie wir unser Privileg nutzen. Für mich bedeutet das: inklusive Gemeinschaften aufbauen und den Zugang zu Bildung verbessern.
Deine Arbeit ist tief in deiner lokalen Gemeinschaft verankert.Was hat dich dazu inspiriert, mit benachteiligten Kindern und Jugendlichen im ländlichen Ungarn zu arbeiten?
„Als ich anfing, in der Piliscsabai Tanoda zu arbeiten, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, wirklich etwas Sinnvolles zu tun – echten Wandel zu schaffen für Kinder, die tagtäglich mit Ungleichheit leben.“
Ich würde nicht sagen, dass der Ort, an dem ich arbeite, ländlich ist. Es ist eine Kleinstadt, ja, aber sie liegt nah an der Hauptstadt und genau das macht soziale Unterschiede noch sichtbarer. Auf der einen Straßenseite stehen schöne Einfamilienhäuser im Grünen, auf der anderen verfallene Häuser ohne grundlegende Versorgung. Diese Ungleichheiten haben mich schon immer beschäftigt. Ich habe früh verstanden, was es bedeutet, in einer gebildeten, mittelständischen Familie aufzuwachsen und wie groß die Verantwortung ist, mit diesen Ressourcen etwas zurückzugeben. Als ich anfing, in der Tanoda zu arbeiten, hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, wirklich etwas Sinnvolles zu tun. Ich habe einen Ort gefunden , an dem ich echten Wandel mitgestalten und Kinder und Jugendliche unterstützen kann, die diesen Herausforderungen täglich begegnen.
Gab es einen bestimmten Moment, in dem du wusstest: „Ich will etwas verändern“?
Ich hatte schon immer das Bedürfnis, mich für Menschen einzusetzen, die ungerecht behandelt werden. In der Mittelstufe habe ich einmal ein Roma-Mädchen getröstet, nachdem jemand rassistische Bemerkungen gemacht hatte. Wir kannten uns kaum, und ich glaube, das war das einzige Mal, dass wir miteinander gesprochen haben. Sie war einige Jahre jünger als ich. Jahre später – ich hatte die Schule längst verlassen – besuchte ich meine alten Lehrer*innen, und dieses Mädchen kam auf mich zu, umarmte mich und sagte, dass sie sich bis heute daran erinnert, wie sehr ich ihr damals geholfen habe. In diesem Moment wurde mir klar: Schon eine einfache, mitfühlende Geste und der Mut, sich gegen Unrecht zu stellen, können eine nachhaltige Wirkung haben. Vielleicht wusste ich damals noch nicht, dass ich „etwas verändern“ will aber es war mein erster bewusster Moment, in dem ich begriffen habe, wie wichtig es ist, die Stimme zu erheben und Ungerechtigkeit nicht einfach hinzunehmen.
Du hast oft betont, dass deine Arbeit abseits der öffentlichen Aufmerksamkeit stattfindet.Was siehst du in deinem Arbeitsalltag, das andere häufig übersehen?
„Ohne Sozialarbeiter*innen würde das System zusammenbrechen.“
Die Art von Bildungseinrichtung, in der ich arbeite – die Tanoda – ist in Ungarn kaum bekannt, obwohl es fast 200 davon gibt. Wenn ich über meine Arbeit spreche, muss ich oft erst erklären, was das ist und was wir dort tun. Menschen, die im sozialen Bereich arbeiten – vor allem mit den verletzlichsten Gruppen der Gesellschaft – erfahren in Ungarn nur wenig finanzielle oder gesellschaftliche Anerkennung. Dabei sind sie das unsichtbare Rückgrat des Systems: Ohne sie würde alles zusammenbrechen. In meinem Alltag sehe ich die harte Realität von Armut, Bildungsungleichheit und Segregation. Es sind Wahrheiten, die viele lieber nicht sehen – sei es aus Unwissenheit oder weil sie selbst mit dem eigenen Überleben beschäftigt sind.
Die Arbeit im sozialen Bereich kann erfüllend sein – aber auch herausfordernd.Was sind die größten Hürden und wie gehst du damit um?
„Wir erschaffen etwas aus dem Nichts. Und wir machen weiter gemeinsam.“
Eine der größten Herausforderungen ist es, in einem System zu arbeiten, in dem soziale Gerechtigkeit keine politische Priorität ist. Im Gegenteil: Oft werden die wenigen existierenden Strukturen bewusst geschwächt oder abgeschafft. Der gesamte Sozialsektor ist massiv unterfinanziert und wird gesellschaftlich kaum wertgeschätzt. Ich musste zeitweise zwei bis drei Jobs gleichzeitig machen, um dort arbeiten zu können. Es gibt wenig Anerkennung, der Handlungsspielraum der Zivilgesellschaft wird enger, und Gesetze erschweren unsere Arbeit zusätzlich. Oft fühlt es sich an, als würden wir einen Schritt vorwärts und zwei zurück machen. Was mir hilft, ist der Blick darauf, wie weit wir mit unserer Organisation bereits gekommen sind und wie viel wir mit so wenig erreicht haben. Ich glaube an die Kraft von Gemeinschaften. Menschen um mich zu haben, die ähnliche Werte teilen, gibt mir Halt. Und vor allem motivieren mich die Kinder und Jugendlichen, mit denen ich arbeite. Wenn eine Aktivität, die ich plane, sie zum Lächeln bringt, Fragen aufwirft oder ein Gespräch anstößt – dann weiß ich wieder, warum ich das alles mache.
„Schon eine kleine Geste der Freundlichkeit kann eine nachhaltige Wirkung haben.“

Gibt es einen Moment oder eine Geschichte aus deiner Arbeit, die dich besonders bewegt hat?
Es ist schwer, nur einen Moment auszuwählen. Aber kürzlich gab es eine Situation, die mir besonders im Gedächtnis geblieben ist. Einer unserer Jungen – eigentlich nicht der Typ, der große Gefühle zeigt – kam völlig aufgelöst zu unserem Nachmittagsprogramm. Er hatte seinen Rucksack im Bus liegen lassen. Er weinte, und ich sah, wie ernst es ihm war. In dem Rucksack war alles: Bücher, Ausweis, Taschengeld und vor allem sein geliebtes Handy. Ich versprach ihm, dass wir versuchen würden, ihn zurückzubekommen. Und tatsächlich hatte ich das Glück, eine sehr freundliche Mitarbeiterin beim Busunternehmen zu erreichen. Der Fahrer hatte den Rucksack gefunden und kam bald wieder an unserer Station vorbei. Als ich ihm den Rucksack übergab, stand da ein überglücklicher Junge vor mir, den Tränen nah vor Erleichterung. Später, bei einer Runde, in der alle den Satz „Ich bin dankbar für …“ beenden sollten, sagte er: „Ich bin dankbar für Magdi, weil sie meinen Rucksack zurückgebracht hat.“ Er hat sich so oft bedankt, dass man merkte, er wusste gar nicht, wie er mit so einer Situation umgehen soll.
Bis heute werde ich emotional, wenn ich daran denke. Für mich war es eine Selbstverständlichkeit – für ihn war es alles. Diese Geschichte erinnert mich daran, wie wichtig selbst kleinste Gesten der Fürsorge sind, besonders für Kinder, die so etwas im Alltag kaum erleben.
Was bedeutet es dir persönlich und für die Menschen, mit denen du arbeitest – den Titel Young European of the Year 2025 zu erhalten?
Für mich persönlich bedeutet diese Auszeichnung sehr viel. Sie gibt mir das Gefühl, dass das, woran ich glaube und wofür ich arbeite, wirklich zählt. Manchmal zweifelt man an sich oder fragt sich, ob die eigene Arbeit überhaupt Wirkung zeigt. Diese Anerkennung bestätigt: Ja, der eingeschlagene Weg ist richtig. Für die Menschen, mit denen ich arbeite, ist diese Auszeichnung sogar noch bedeutender. Sie zeigt, dass die Arbeit vor Ort – mit Kindern und Jugendlichen, die mit echten Herausforderungen leben – gesehen und geschätzt wird. Sie ist ein Zeichen dafür, dass soziale Arbeit und Gemeinschaftsaufbau nicht unsichtbar oder zweitrangig sind, sondern essenziell.
Wenn du auf das heutige Europa blickst: Was brauchen junge Menschen, um sich sicher, gehört und unterstützt zu fühlen?
Junge Menschen stehen heute vor enormen Herausforderungen: persönliche Krisen, Kriegsängste, Klimakatastrophe und zunehmende Ungleichheit. Die Politik ignoriert ihre Bedürfnisse oft und schützt ihre Rechte nicht ausreichend. Um junge Menschen wirklich zu unterstützen, müssen wir bei ihren Grundbedürfnissen anfangen: sichere, inklusive Räume schaffen, in denen sie sich treffen, wohlfühlen und Zugang zu Essen und Fürsorge haben. Aber das allein reicht nicht. Sie müssen auch verstehen, wie das System funktioniert, in dem sie leben – welche Rolle sie darin spielen und wie sie ihre Stimme erheben können. Gemeinschaften spielen dabei eine zentrale Rolle: Sie bieten jungen Menschen den Raum, um Demokratie zu üben, gemeinsam Entscheidungen zu treffen, Empathie zu entwickeln und ihre eigene Wirksamkeit zu erfahren. Dieses Gefühl von Zugehörigkeit und Selbstwirksamkeit ist der Schlüssel, damit junge Menschen glauben: Meine Stimme zählt. Ich kann etwas bewegen.
Wenn du eine Sache in der europäischen Jugendpolitik ändern könntest – was wäre es?
„Investiert langfristig in sichere Räume für junge Menschen.“
Das wäre defintiv die Förderung von langfristiger, stabiler Finanzierung – vor allem für gemeinschaftsbasierte Jugendzentren und non-formale Bildungsangebote. Solche Räume sind essenziell, weil sie jungen Menschen ermöglichen, Demokratie praktisch zu erleben, Solidarität zu lernen und echte Beziehungen außerhalb der Schule aufzubauen. Sie fördern Resilienz und Zugehörigkeit – beides ist entscheidend, damit junge Menschen sich gesehen und wertgeschätzt fühlen und aktiv an der Gesellschaft teilhaben können. In diese Art von langfristiger Unterstützung zu investieren, ist essenziell für ein gerechteres und inklusiveres Europa.
Abschließend: Was würdest du anderen jungen Menschen sagen, die sich engagieren möchten, aber noch zögern?
„Fang klein an. Werdet gemeinsam aktiv. Veränderung wächst aus Verbindung.“
Such dir Menschen, die deine Werte teilen – gemeinsam ist es leichter, aktiv zu werden. Und warte nicht auf den perfekten Moment oder die große Idee. Fang einfach mit dem an, was um dich herum ist: Hilf bei einer Aktion in deiner Nachbarschaft, sag deine Meinung in einer Diskussion oder unterstütze eine Initiative, die dir am Herzen liegt. Kleine Schritte zählen. Sie schaffen Verbindung, erhöhen das Bewusstsein und bringen die Dinge langsam in Bewegung.